Anspruch auf individuelle Schulassistenz – als Jugendhilfe oder Sozialhilfe ?
Mit Beschluss vom 22. Januar 2024 (Az. OVG 6 S 60/23) hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschieden, dass eine Grundschülerin mit einer Autismus-Spektrum-Störung Anspruch auf eine individuelle Schulbegleitung als Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Verbindung mit § 112 SGB IX hat. Die Entscheidung verpflichtet das zuständige Jugendamt, eine qualifizierte Fachkraft für 25 Stunden pro Schulwoche bis zum Ende des Schuljahres bereitzustellen.
- 35a SGB VIII regelt die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder entsprechender Gefährdung.
Seit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes richtet sich die konkrete Ausgestaltung der Leistungen nach den Vorschriften des SGB IX, insbesondere:
- 90 Abs. 4 SGB IX: Teilhabe an Bildung soll eine den Fähigkeiten entsprechende Schulbildung ermöglichen.
- 112 Abs. 1 SGB IX: Leistungen zur Teilhabe an Bildung umfassen auch Hilfen zur Schulbildung, einschließlich heilpädagogischer Maßnahmen und individueller Assistenz.
Die Entscheidung betont, dass die Jugendhilfe nicht nachrangig ist, wenn die Schule den Förderbedarf nicht vollständig decken kann (§ 10 SGB VIII).
Die Antragstellerin besuchte die erste Klasse einer Berliner Grundschule und leidet neben Autismus auch an motorischen und sprachlichen Entwicklungsstörungen. Fachärztliche Gutachten, schulische Stellungnahmen und Beobachtungen belegen, dass sie ohne kontinuierliche Unterstützung nicht angemessen am Unterricht teilnehmen kann. Die bisher gewährten Schulhelferstunden und Fördermaßnahmen reichen nicht aus, um ihren individuellen Bedarf zu decken.
Das OVG sah sowohl den Anordnungsanspruch als auch den Anordnungsgrund als gegeben an. Es stellte fest, dass die Schulassistenz keine pädagogische Kernleistung der Schule darstellt, sondern eine originäre Teilhabeleistung der Jugendhilfe. Die Schule könne die notwendige Unterstützung nicht allein gewährleisten, insbesondere nicht durch wechselndes Personal oder gruppenbezogene Schulhelferstunden.
Diese Entscheidung stärkt die Rechte von Kindern mit seelischer Behinderung auf chancengleiche Bildung und stellt klar, dass die Jugendhilfe auch im schulischen Kontext zur Leistung verpflichtet ist, wenn die Schule den Bedarf nicht decken kann. Sie unterstreicht die Bedeutung individueller und qualifizierter Assistenz zur Sicherung der Teilhabe am Bildungssystem.
In vielen Fällen ist auch der Umfang der begehrten Schulassistenz streitig. Die Jugendämter negieren, dass in vielen Fällen die Schulbegleitung langfristig bzw. sogar dauerhaft erforderlich ist und legen den Umfang einseitig ohne Einbeziehung der Betroffenen fest. Das Verwaltungsgericht Leipzig hat dazu in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren Verfahren unter dem Az.: 5 L 228/23 klargestellt:
„Welchen konkreten Umfang die Hilfeleistung haben muss, um dieses Ziel zu erreichen, bemisst sich allein am individuellen Bedarf des Hilfeempfängers, der anhand eines ergebnisoffenen, kooperativen und sozialpädagogischen Entscheidungsprozesses von Amts wegen zu ermitteln ist, vgl. § 20 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - SGB X -……Die Entscheidung der Antragsgegnerin ist aber auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil die zu beteiligenden Personen bzw. Institutionen nicht ausreichend in den Entscheidungsprozess über den Umfang der weiteren Hilfegewährung einbezogen worden sind bzw. ihre Einschätzungen nicht hinreichend gewürdigt wurden.“
In der Praxis leiten die Jugendämter den Antrag auf Schulassistenz oft an den Sozialhilfeträger weiter, weil sie sich nicht für zuständig halten oder verweisen auf eine „Abgabe“ an den Sozialleistungsträger und „vertrösten“ auf eine Entscheidung durch diesen. Dieser Kompetenzstreit darf aber nicht auf dem Rücken der Hilfebedürftigen ausgetragen werden Der Sozialleistungsträger, an den der Antrag abgegeben wurde, wird zum leistenden Rehabilitationsträger und muss auch Leistungen, die nicht in seine Zuständigkeit fallen, also z.B. Leistungen der Jugendhilfe, erbringen. Es besteht für diesen ggf. ein Erstattungsanspruch gegen den Jugendhilfeträger.
Leider zeigt die Praxis auch, dass dieses „Gerangel“ um die Zuständigkeit zu erheblichen Zeitverzögerungen führt und den Berechtigten daraus erhebliche Nachteile erwachsen. Unsere Rechtsordnung sieht für solche Fälle das Instrumentarium des einstweiligen Rechtschutzes vor. Wie die zitierten Entscheidungen belegen, können oft nur über diesen Weg Ansprüche kurzfristig durchgesetzt und Nachteile für die betroffenen Schüler vermieden werden.
Constanze Würfel
Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht