Wegfall des Unterlassungszwanges bei Berufskrankheiten ab 01.01.2021

Mit dem Siebten Sozialgesetzbuch-IV-Änderungsgesetz wurde zum 01.01.2021 der Wegfall des Unterlassungszwangs als Kriterium für die Anerkennung von Berufskrankheiten (BK) beschlossen. Danach kam bei einigen Krankheitsbildern nur dann eine Anerkennung als Berufs-krankheit in Frage, wenn der Be¬troffen¬e die entsprechende Tätigkeit aufgab. Bedeutsam ist dies u.a. bei Hauterkrankungen (BK 5101), Atemwegserkrankungen (BK 4301/4302), Sehnenscheidenentzündungen (BK 2101) oder den sehr häufigen bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäue (BK 2108- 2110). Zu den bandscheibenbedingten Wirbelsäulenerkrankungen zählen die Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (BK 2108 und 2110) und die Erkrankungen der Halswirbelsäule (BK 2109). Bei den Erkrankungen im Sinne der BK 2108 werden die Bandscheiben der Lendenwirbelsäule überdurchschnittlich belastet. Durch die Arbeit können solche Belastungen entstehen, wenn über Jahre hinweg schwere Gegenstände gehoben oder getragen werden oder Tätigkeiten mit extremer Beugung des Oberkörpers (Rumpfbeugehaltung) verrichtetet werden. Um einschätzen zu können, ob schwer gehoben oder getragen wurde bzw. Tätigkeiten in extremer Beugehaltung des Oberkörpers ausgeübt wurden, sind Bewertungskriterien erarbeitet worden, wie zum Beispiel das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD), modifiziert durch das BSG Urteil v. 30.10.2007, B 2 U 4/06, der BK-Report 2/2003 und die Empfehlungen für die medizinische Sachverständigenbegutachtung (Konsensempfehlungen). Darüber hinaus wurde versucht, durch Forschungsprojekte (Deutsche Wirbelsäulenstudie I, DWS I) und deren Folgestudien (DWS II)) weitere Erkenntnisse zu erhalten. Allerdings wurden diese vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) als nicht ausreichend angesehen, um darauf Anpassungen bei den Rahmenbedingungen dieser Berufskrankheit begründen zu können. Daher stehen diese Anpassungen leider nach wie vor noch aus und viele der Fälle landen vor den Sozialgerichten. Erkrankungen im Sinne der BK 2110 können arbeitsbedingt entstehen bei einer überdurchschnittlichen Belastung der Bandscheiben der Lendenwirbelsäule durch Ganzkörperschwingungen. Solche Belastungen können entstehen bei Arbeitstätigkeiten, die im Sitzen verrichtet werden und bei denen auf den ganzen Körper Vibrationen über Jahre hinweg eingewirkt haben. Insbesondere bei älteren und ungefederten landwirtschaftlichen- und Transportfahrzeugen konnten diese Belastungen auftreten. Erkrankungen der Halswirbelsäule im Sinne der BK 2109 können entstehen bei einer überdurchschnittlichen Belastung der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Gegenstände auf der Schulter. Solche Belastungen können insbesondere bei Fleischträgern, die Schweinehälften oder Rinderviertel auf dem Schultergürtel tragen, vorkommen. Die Unfallversicherungsträger haben künftig die Aufgabe, für die Betroffenen, die unter gefährdenden Bedingungen weiterarbeiten, Präventionen anzubieten. Der bisherige Unterlassungszwang sollte sicherstellen, dass eine weitere Schädigung durch die Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit verhin¬dert wird. Dieses Ziel lässt sich heutzutage jedoch durch eine gezielte individuelle Prävention errei¬chen. Die Regelung tritt zum 01.01.2021 in Kraft. Sie sieht auch eine erhebliche Rückwirkung vor. Unfallversicherte, bei denen eine Anerkennung als Berufskrankheit in der Vergangenheit aufgrund der fehlenden Aufgabe der schädigenden Tätigkeit nicht erfolgen konnte, werden überprüft, wenn sie nach dem 1. Januar 1997 entschieden worden sind. Betroffenen ist daher anzuraten, einen Überprüfungsantrag beim zuständigen Unfallversicherungsträger zu stellen. Denn – die Erfahrung zeigt, die Überprüfung von Amts wegen kann dauern oder schlicht in Vergessenheit geraten…

Constanze Würfel Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

 

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