„Schuster bleib bei deinen Leisten“ – das gilt für Anwälte und Ärzte!
Unsere Gesundheit und unser Leben liegen in den Händen der uns behandelnden Ärzte. Auf ihnen lastet ein enorm hoher Druck. Der Patient erwartet oft mehr als ärztlichen Rat. Aber wo sind die Grenzen der eigenen Kompetenz, wo endet die ärztliche Verantwortung? Und wo steht die der Krankenkassen?
Das Bundessozialgericht hat in einer Entscheidung vom 11. Mai 2017 klargestellt, dass eine falsche Auskunft eines Arztes nicht zu Lasten eines Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen gehen darf.
In dem vom BSG zu entscheidenden Klageverfahren (Az. B 3 KR 22/15 R) meinte ein Hausarzt, der Klägerin brauche am letzten Tag der bisher bescheinigten AU-Dauer nicht erneut AU attestiert zu werden, weil dies bei einem am Folgetag vereinbarten Termin durch eine Fachärztin ohnehin erfolgen werde. Die Klägerin war wegen einer depressiven Episode arbeitsunfähig und stellte sich am Folgetag einer Fachärztin für Neurologie/Psychiatrie vor.
Die Krankenkasse lehnte den Anspruch auf Krankengeld mit der Begründung ab, es bestünde keine Mitgliedschaft mehr mit Krankengeldanspruch. Voraussetzung dafür sei, dass die Versicherte am letzten Tag der AU eine Folgebescheinigung erhalte und nicht erst einen Tag später. Nach § 46 Satz 1 Nummer 2 SGB V (in der bis 22. Juli 2015 geltenden Fassung) entstand der Anspruch auf Krankengeld von dem Tag an, "der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der AU folgt".
Die Krankenversicherungs-Senate des Bundessozialgerichts haben Versicherten bisher nur unter engen Ausnahmen Ansprüche auf Krankengeld zuerkannt, wenn die rechtzeitige ärztliche AU-Feststellung durch Umstände verhindert wurde, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen zuzurechnen sind. Demgegenüber sollte eine Krankenkasse für rechtliche Ratschläge des Arztes zu den Voraussetzungen des Krankengeld-Anspruchs nicht einstehen müssen. Dafür stünden dem Patienten gegebenenfalls zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Arzt zu Seite.
Der 3. Senat des BSG hat nun entschieden, dass eine Krankenkasse ausnahmsweise Krankengeld auch gewähren muss, wenn die Fehleinschätzung des Arztes über die Notwendigkeit einer AU-Bescheinigung auf nichtmedizinischen Gründen beruht. Der Versicherte dürfe in diesen Fällen nicht auf ungewisse Regressansprüche gegen den Arzt verwiesen werden. Die Krankenkassen könnten sich bei dieser Sachlage nicht von ihrer Leistungspflicht befreien. Denn dies sei treuewidrig. Die falsche Beratung durch den Hausarzt müsse dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen zugerechnet werden.
Diese Entscheidung dürfte auch im Interesse der Ärzte sein, die sich im Zweifel auf ihre medizinische Kompetenz beschränken und rechtlichen Rat den fachlich kompetenten Ansprechpartnern überlassen sollten.
Bei allem Verständnis für den eingangs erwähnten Druck, käme eine Anwältin wohl nie auf die Idee, dem ratsuchenden Mandanten eine Auskunft zur richtigen ärztlichen Behandlungsmethode zu geben. Meine Erfahrungen zeigen, dass sich Mediziner oft schwer tun, die Grenzen der eigenen Kompetenz deutlich zu machen. Übrigens zum Thema AU-Bescheinigung scheint die Rechtsprechung noch lange nicht abgeschlossen. Das Sozialgericht Leipzig hat in einer mutigen Entscheidung vom 3. Mai 2017 (Az.: S 22 KR 75/16) entschieden, dass ein Krankengeldanspruch nicht zwingend eine förmliche AU-Bescheinigung voraussetzt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Solange beim Thema Krankengeld/AU-Bescheinigung keine Klarheit geschaffen ist, sollte im Zweifel lieber einmal mehr als zu spät zum Arzt und einmal mehr als zu spät zur Anwältin für Sozialrecht gegangen werden.
Constanze Würfel Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht