Jahresrückblick 2016
Ende vergangenen Jahres wünschte ich Ihnen, liebe Kippe- Leserinnen und Leser dass Sie die turbulenten letzten Wochen des Jahres mit Herz und Verstand meistern. Und ich verband damit die Hoffnung, dass wir alle die im kommenden Jahr anstehenden Probleme eben mit diesem schon irgendwie schaffen.
Die Kippe-Redaktion bat mich nun um einen persönlichen Jahresrückblick.
Mein Verstand sagt, du hast fast 200 Mandate bearbeitet, das heißt fast ebenso viele Mandanten beraten und vertreten, du hast Erfolgsaussichten eingeschätzt, Chancen abgewogen, Anträge gestellt, Widersprüche eingelegt, geklagt, verhandelt, Vergleiche abgeschlossen, Urteile besprochen, Berufungen eingelegt etc. Dabei stand mir eine fleißige Mitarbeiterin zur Seite, denn allein ist das nicht zu schaffen. Gemeinsam haben wir unzählige Telefonate geführt und Schriftsätze versandt. Wir sind beide nicht reich damit geworden. Ein Widerspruchsverfahren wegen einer abgelehnten Rente auf der Grundlage eines Beratungshilfescheines für 85 EUR zu führen, kann sich nicht rechnen – sagt uns der Verstand. Doch gegen die Schere im Kopf, die uns sagt, Schluss jetzt, mehr Zeit kannst du für dieses Mandat nicht investieren, wehrt sich das Herz. So kann diese Ungerechtigkeit nicht stehen bleiben. Die Mandantin/der Mandant braucht jetzt unsere Hilfe, um ihre/seine Rechte durchzusetzen. Schicksalsschläge wie Unfälle, Erkrankungen, Jobverlust sind die Themen, die die Menschen zu uns führen.
Nicht immer behalten Vernunft und Verstand die Oberhand. Ärger, Wut und Enttäuschung sind Gefühle, die im Interesse einer sachlichen Beurteilung in Schach zu halten sind. Das fällt manchmal schwer. Zum Beispiel wenn wir die Nachricht vom Tod einer jungen Mandantin erhalten, die ihrem Krebsleiden erlegen ist. Die Krankenkasse hatte ihr eine spezielle Untersuchung/Diagnostik mittels PET verwehrt. Über diese kann man besser und eher erkennen, ob sich ein Rezidiv des Tumors gebildet hat. Oder wenn einem jungen Mann, der - nachdem er durch Drogenkonsum erhebliche psychische Probleme bekam - sich nun schon seit Jahren „clean“ ehrenamtlich um „gestrauchelte“ junge Menschen kümmert, die Gewährung einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme zum Sozialarbeiter verwehrt wird. Er verfüge nicht über die erforderliche psychische Stabilität. Dass er in der Praxis bereits das Gegenteil bewiesen hat, zählt nicht. Da hilft nur Mut machen. Den Mandanten und auch mir. Wir schaffen das! Ich weiß nicht, wie es ihnen geht. Ich brauche gelegentlich so einen Mutmacher. Und viele meiner Mandantin auch. Und nur so war es möglich, gemeinsam Erfolge zu haben, beim Kampf um einen neuen Treppenlift, den Zugang zu einer Behindertenwerkstatt, einen Elektrorollstuhl, einen orthopädischen Bürostuhl, eine stationäre psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme, eine Erwerbsminderungsrente, Krankengeld, ein neues Haarteil, und so weiter.
Und darum ärgerte es mich in diesem Jahr besonders, wenn sich manche unter uns an solchen einfachen, Mut machenden Sätzen reiben, sich gegen Vielfalt und Menschlichkeit artikulieren, um neue Mauern und Zäune zu rechtfertigen.
Ich habe vor 25 Jahren den Antrag gestellte, mich zur Anwaltschaft zuzulassen. Das war eine bewusste Entscheidung. Ich wollte unter demokratischen Bedingungen für Recht und Gerechtigkeit eintreten. Das habe ich bis heute nicht bereut. In meiner Arbeit kann ich täglich wertschätzen, was demokratische Grundrechte sind. Sie fallen uns nicht zu, wir müssen Widerstände überwinden und immer wieder um sie kämpfen. Wenn wir über „die Politiker“ urteilen, müssen wir uns zugleich fragen, was wir selbst für den Erhalt der Demokratie tun, oder? Dann dürfen wir den Trumps nicht das Feld überlassen. Und erst recht nicht denen, die hier bei uns im Land Ausländerfeindlichkeit schüren und behaupten, sie seien die Stimme des Volkes.
Es gibt jede Menge zu klagen, das ist mein Job. Aber - wir haben auch jeden Grund dankbar zu sein. Heute vermeldet z.B. die Presse, bei der Versorgung mit Facharztpraxen bestehe noch immer eine Kluft zwischen Stadt und Land. Nach einer Studie im Auftrag der gesetzlichen Krankenkasse Pronova-BKK wären im vergangenen Jahr Patienten in größeren Städten im Schnitt keine 20 min zum Facharztbesuch unterwegs. In Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern benötigten sie dagegen 10 min mehr. Ich stelle mir bei einer solchen Meldung die Frage, ob dies ein Grund zur Klage ist oder nicht eher ein Hinweis darauf, wie gut wir in Deutschland versorgt sind? 2014 berichtete „The Vanguard“, eine nigerianische Zeitung, dass es in der 300 Mio Einwohner zählenden Region gerade einmal 60 Onkologen gibt, von denen 20 im 160 Mio Menschen zählenden Nigeria ihren Beruf ausüben. Im 24 Mio Einwohner zählenden Ghana sind sieben Onkologen im Einsatz, in Burkina zwei. Im sechs Mio Menschen zählenden Sierra Leone gibt es überhaupt keinen Facharzt zur Behandlung von Krebs.
Ich meine im Rückblick auf 2016, nicht nur die Balance zwischen Herz und Verstand, sondern auch zwischen Klage und Dankbarkeit ist wichtig. Ich werde auch 2017 für soziale Rechte klagen und dafür eintreten, dass die Schere zwischen arm und reich nicht größer wird – Danke für ihr Vertrauen!
Constanze Würfel Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht